LEMUR
Die Kakerlake. Sie überlebt sie alle. Die Dinosaurier. Die Mammuts. Die Chinesischen Flussdelfine. Die Menschen.
Mit seiner neuen EP „Die Herrschaft der Kakerlaken“ entführt Lemur seine Hörer in die Abgründe dieser Welt – in die vielen kleinen Ritzen, Spalten und tiefen Löcher, die wir zu gern übersehen, dorthin, wo Angst und Ekel zu Hause sind. Nach seinem 2017 veröffentlichten Solo-Album „Die Rache der Tiere“ sind nun die Kakerlaken an der Macht. Düstere Biester beherrschen die Erde, sie überleben radioaktive Strahlung, werden in schlechten Zeiten zu Kannibalen und können sogar völlig kopflos über eine Woche überleben. „Die Herrschaft der Kakerlaken“ ist ein Abgesang auf die Welt – dystopisch, tief sarkastisch und doch mit einem Blick auf den Zauber in allen Dingen, so hässlich sie auch sein mögen. Denn schließlich hat doch alles ein Lied verdient.
Mit „Everything deserves a song“, dem Gedicht des irischen Poeten David Ryan, eröffnet die fünf Songs starke EP ihren düsteren Reigen. Nach der Ouvertüre „Alles hat ein Lied verdient“ seziert Lemur all jene Dinge, die der Abfall der Menschheit so hervorbringt, fröhlich weiter: Von Gentrifizierungswahnsinn und großstädtischer oberflächlichkeit („Späne“) über persönliche Krisenherde („Katastrophen“) und globale Endzeitszenarien („Die Herrschaft der Kakerlaken“) bis hin zu illustren Verschwörungstheorien („Chemtrails“) bekommt auf seiner neuen EP wirklich alles ein Lied. „Ich hatte Lust mal ausschließlich in der Finsternis fischen zu gehen, und zu schauen, ob ich dort etwas an den Haken bekomme, das eine spannende Geschichte birgt. Die Arbeit an der EP war ein bisschen wie eine aufregende Expedition ins Abseits für mich“, beschreibt der Rapper den Songwriting- Prozess. Die Texte entstehen größtenteils auf Wanderungen innerhalb und außerhalb Berlins, werden von Lemur live ins Handy eingesprochen. Der musikalische Unterbau folgt im heimischen Studio.
Hier verbarrikadiert sich der selbsternannte Feuchtnasenaffe mehrere Monate lang bei zum Teil tropischen Temperaturen und gerät in einen regelrechten Strudel der Experimentierfreude: „Ich habe das Gefühl eine Art Metamorphose durchlaufen zu haben, und Musik nun mit ganz neuen Augen zu sehen, wie ein Kind, das sich über die unendlich vielen Möglichkeiten freut, auf dieser Welt Dinge zu veranstalten.“ Als Grundgerüst der Beats sowie zur Untermalung von Hauptmelodien und Samples arbeitet Lemur ausschließlich mit dem Einsatz seiner Stimme. Durch Beatboxing und Chöre, die er selbst mit mehrfach verstellten Stimmen einsingt, entwickelt der Wahlberliner sein eigenes Soundkonzept, das er unter anderem durch ein Akkordeon ergänzt. Für den Song „Katatrophen“ holt sich Lemur zudem das musikalische Universalgenie Jonathan Walter ins Studio. Das Ergebnis sind ein im deutschen HipHop einmaliger Detailreichtum, der mehr nach postapokalyptischer Filmmusik klingt als nach Rap-Beats, sowie ein perfekt ineinandergreifendes Zusammenspiel von Musik und Text.
Lemurs Reise beginnt 1981 im niedersächsischen Wolfsburg, wo er zwischen den Schornsteinen der Industriestadt aufwächst. Erste Crew-Projekte wie „Der Aksel des Bösen“ lässt er bald hinter sich und ist ab 2007 als rappender und produzierender Teil des Duos Herr von Grau unterwegs. Fünf gemeinsame Releases und unzählige gemeinsame Konzerte und Festival-Gigs später trennen sich im April 2014 die Wege. Solistisch und mit neuem Namen geht es für den Rapper weiter, mit seiner ersten LP „Geräusche“ unterschreibt er 2015 beim Dresdener Label Kreismusik, bei dem auch Käptn Peng sein musikalisches Zuhause hat. Von Anfang an geht Lemur in seiner neuen künstlerischen Freiheit ungewöhnliche Wege, seine Texte erzählen Geschichten von Untergang und Befreiung, lassen aber auch Raum für Konfusitäten, für Irrungen und Wirrungen. 2017 folgt sein zweites Album „Die Rache der Tiere“, das ihn ungewöhnlich positiv über nicht ganz einfache Themen wie den Tod philosophieren lässt. Die Entwicklung ist sichtbar, auf inhaltlicher wie auch auf musikalischer Ebene. „Für mich persönlich fühlt es sich an, als hätte ich mich musikalisch freigeboxt. Ich verspüre nun einen heftigen Hunger, mehr zu experimentieren und noch tiefer in die Welt vorzudringen, die mir das Produzieren eröffnet.“
So zeigt sich Lemur auf seinem dritten solistischen Werk „Die Herrschaft der Kakerlaken“ eindrucksvoll als Regisseur eines ganzheitlichen Endzeitkopfkinos mit doppeltem und dreifachen Boden, das den Hörer in seinen Bann zieht. Direkt und ungeschönt, dennoch detailverliebt und vieldeutig – so liefert der Musiker perfide Lyrics und einen Sound, der strahlt wie nuklearer Niederschlag.
Provisorium EP (2016)
LEMUR & MARTEN MCFLY
Lemur und Marten McFly eint die Rastlosigkeit. Hummeln im Arsch, zwei unruhige Geister, denen Bauchgefühl meist vor Ratio geht. Auch ihre gemeinsame EP mit dem Namen „Provisorium“ ist so entstanden. Bevor die professionellen Aufnahmen losgingen, hatte Marten McFly bereits alle Aufnahmen provisorisch bei sich im Wohnzimmer aufgenommen. Jetzt sollte er diese noch einmal „vernünftig“ in Lemurs Studio einrappen. Trotz großer Anstrengungen zeigte sich, dass der Flavor bei allen Wohnzimmer-Aufnahmen deutlich höher war. Die Konsequenz: Von Marten McFly wurden nur provisorische Aufnahmen für die Platte genommen. Flavor vor Kopf als entscheidendes Kriterium bei der Produktion. Das meint nicht, dass hier nur hingeklatschte Stücke zu hören sind. Vielmehr wurde die Magie des Provisorischen genutzt. Der Zauber des ersten Momentes, in dem ein Gedanke aufgenommen wird ist der beste! Beide Rapper haben sich einzelne Textskizzen wieder und wieder hin- und hergeschickt, bis es passte. Dieses erste Gefühl wurde dann aufwendig wie detailverliebt musikalisch umrahmt und ist dabei wunderbar roh, dreckig und klassisch hiphopig ausgefallen.
Eröffnet wird die EP mit Provisorium. Nichts hält länger, das wissen wir! Auf der Suche nach Wahrheit entstand Geteiltes Ei, ein Track über die gesammelten Lebensweisheiten der beiden. „Sag mir deinen Namen und ich sag dir, wie du heißt“. Lemur und Marten sind sich einig: hört auf die Sprichwörter eurer Großeltern, denn sie haben Recht! Das misanthropische Lächeln ist zusammen beim Freestylen entstanden. So oft haben die beiden Rapper die hypnotisierende Refrainzeile wiederholt, dass der Rahmen stand. Hummeln ist ursprünglich eine Zusammenarbeit von Shaban und Marten McFly über die Hummeln in ihren Hintern, die sie antreiben. Lemur stieg sofort mit ein, weil ihm das Thema eine absolute Herzensangelegenheit ist und ihn, wie auch Marten McFly, als Segen und Fluch wohl das ganze Leben begleiten wird. Auf Meine Musik reflektieren die beiden Berliner die Eigendynamik ihrer geschaffenen Werke. Bis hin zu dem Punkt, an dem ihre Schöpfer die Formen, die die Musik annimmt, nicht mehr ganz nachvollziehen können. Am Ende steht ein epochaler Track namens Wände. Da zeigt sich Lemur, wie wir ihn lieben: er versucht alles kaputtzumachen. Denn so wie es ist, ist es irgendwie scheiße. Auf einem Instrumental, dass man mit Rammstein in Slomo bezeichnen möchte, wird alles zusammengebrüllt. Marten versucht es zwar wieder aufzubauen, merkt aber, dass das erneute Zerstören sinnvoller ist.
Was am Ende zwischen all den Trümmern hängen bleibt? Ganz sicher die erneute Einsicht, dass wohl eben nichts länger hält wie ein Provisorium. Und diese Wahrheit passt nicht nur auf die ruhelosen Leben von Lemur und Marten McFly, sondern trifft, wenn wir ehrlich sind, auf mehr zu als uns manchmal lieb ist.